Fatih Kurceren, Junge, Duisburg, März, 2017

REVIEW // BEYOND EMSCHER – FOTOGRAFISCHE POSITIONEN AUS DER GEGENWART

Eine Ausstellung der Emschergenossenschaft und der Stiftung Zollverein in der Mischanlage des UNESCO-Welterbes Zollverein

12. Mai bis 06. November 2022

Eine ganze Industrieregion zu revitalisieren – und das Gebiet entlang der Emscher ist nur ein Teil davon – bedarf komplexer, holistischer Konzepte. Heute ist die Emscher nach über 30 Jahren vollständig abwasserfrei. Vor diesem Hintergrund ist sogar ein neuer, sanfter Kulturtourismus möglich und dieser kann in einer Welt, die vom Klimawandel und globalen Krisen geprägt ist, plötzlich eine Alternative sein.

Neue Regenerationsprojekte und großangelegte Naturalisierungsprojekte sind daher ein wichtiger Gegenentwurf, dem Klimawandel und der Transformation einer Region, hier dem Ruhrgebiet und des damaligen Abwasserflusses Emscher, entgegenzuwirken. Denn spätestens nach diesem Sommer wissen wir, dass wir auch zukünftig geringe Wasserpegel in Europas Flüssen und Seen zu erwarten haben, begleitet von Waldbränden, verseuchten Flussläufen und Extremtemperaturen. Die Renaturierung der Emscher ist daher nicht nur ein Experiment, sondern soll einen nachhaltigen Wandel des Ruhrgebietes einleiten. Vor allem aber sind es die Menschen und ihre Initiativen, die ganze Landstriche wiederbeleben.

Erst Ende des Jahres 2018 hatten die Kumpels ihre letzte Schicht und wurde auch das letzte Stück Kohle auf Prosper-Haniel in Bottrop gefördert – es war ein emotionaler Abschied. Was bleibt, ist nicht nur eine äußere Landschaft, die in eine neue Kulturlandschaft gewandelt werden soll, sondern vor allem bleibt die Mentalität einer Region im Menschen verankert. Jene Kumpels erzählen nun ihren Kindern und Enkelkindern von einer vergangenen Zeit und von einer Reise unter Tage. Sie erzählen von gelebtem Teamspirit und viel Zusammenhalt. In der Grube – unten im Bergwerk – zählte das Team. Ein Egozentriker wäre dort verloren.

In der umfangreichen Ausstellung „Beyond Emscher“, kuratiert von Stefanie Grebe, Leiterin der Fotografischen Sammlung des Ruhr Museums, und ihrem Kuratorinnenteam, werden noch bis zum 6. November in der Mischanlage des UNESCO-Welterbes Zollverein in Essen 16 fotografische Positionen von 17 Fotografen und Fotografinnen gezeigt; wir sehen Arbeiten von Aymeric Fouquez, Javier Klaus Gastelum, Paul Kranzler, Fatih Kurçeren, Jeffrey Ladd, Andreas Langfeld, Bettina Lockemann, Arwed Messmer, Giorgio Morra, Sabine Niggemann, Martin Rosswog, Sarah Straßmann, Katja Stuke und Oliver Sieber, Nikita Teryoshin, Malte Wandel, Petra Wittmar. Zwei der eingeladenen Fotografen und Fotografinnen – Katja Stuke und Oliver Sieber – arbeiten seit Jahren im Team zusammen. Es sind sehr unterschiedliche Herangehensweisen und jede davon dokumentiert – oder interpretiert künstlerisch, wie Sarah Straßmann in ihrer Serie „Die Besucherin“ – das Renaturierungsprojekt der Emscher.

Die Projekte der verschiedenen Fotografen und Fotografinnen begleiten die Dagebliebenen und die Hinzugezogenen. Sie befassen sich mit dem Innen und dem Außen, mit den Wegen und Spuren entlang des Flusses, mit Schotterstraßen und Sandspuren, die ins Dickicht führen. Viele der fotografischen Arbeiten sind als ein Entblättern des Flusslaufes zu sehen, sie zeigen eher ein Dahinter als Davor.

Aymeric Fouquez zeigte in vergangenen fotografischen Serien die renaturierten Tagebaugebiete in der Lausitz und in der Region um Leipzig. Parallelen zu den Transformationsprozessen in Ostdeutschland sind auffällig und sollen gezogen werden, können doch Beispiele von gelungenen Revitalisierungsprojekten auch als Vorbild für andere Regionen dienen. Fouquez knüpft demzufolge an diesem Ansatz an.

Aber auch die Häfen im nördlichen Ruhrgebiet, die ihre Schönheit in besonderer morgendlicher Atmosphäre und Lichtstimmung entfalten, bekommen eine große Bühne; hier zu sehen in Petra Wittmars Projekt „Emscherzone / Emschertal – Häfen im nördlichen Ruhrgebiet und ihre Umgebung, 2018/2019“. Harte Arbeit spielte sich hier immer vor einer industriell interessanten Kulisse ab.

Der Phoenix-See in Dortmund mit seinen neuen Wohnanlagen und neu hinzugezogenen Bewohnern wird gleich von mehreren Fotografen dokumentiert. Nikita Teryoshin und Martin Rosswog machen den See zugänglich und dokumentieren das neue Leben dort in all seinen Facetten. Phoenix, hier als Gleichnis, tritt aus der Asche in neuem Gefieder empor und zeigt damit, dass eine grundsätzliche Umwandlung in einem Transformationsprozess möglich ist.

In Arwed Messmers „Emscher Walk“ tauchen wir in eine Sound- und Bildinstallation ein. Messmers Arbeit zeigt uns Schritt für Schritt dunkelgrünes Dickicht, Halden, Sandwege. Üppiges Grün und voneinander kaum zu unterscheidende Aufnahmen des Gebietes ziehen uns durch die scheinbaren visuellen Wiederholungen in den Bann. Wir laufen mit ihm, in seinem Rhythmus und auf seinen Wegen entlang der Emscher. Sound on…

In der Serie des Fotografen Andreas Langfeld „ohne Titel“ (die schwatte) erzeugen die Fotografien unterschiedlichster Generationen einen eigenen nächtlichen Ton. Überdimensionierte und fast übereinandergelagerte und geklebte Abzüge halten für uns die Blicke jener fest, die auf dem Weg in den Club sind oder zur Tankstelle fahren. Es sind filmische Szenen, die sich so in jeder Kleinstadt abspielen könnten. Denn am Stadtrand befindet sich das eigentliche Zentrum. Langfelds Nachtaufnahmen von Parkplätzen oder Clubs oder Gehwegen in künstlichem Licht erzeugen ein Grundrauschen.

Fatih Kurçeren wählt 13 Portraits unterschiedlichster Menschen und Geschichten aus, die er uns in dieser Ausstellung, oben im imposanten Raum der Mischanlage, in einer sensiblen Bildsprache vorstellt. Kurçeren fotografiert mit einer Mittelformatkamera, seine analog fotografierten Bilder besitzen eine innere Langsamkeit und Intimität, Kurçeren nähert sich den Gesichtern bewusst kontemplativ. Kein aufdringliches, schnelles, digitales Bildermachen. Im Gegenteil. Wir sehen ein Zusammentreffen der Menschen mit ihrem Fotografen, wir sehen ihre Berührungspunkte mitten im Raum. Traumata und Entwurzelungen bestimmen die Schicksale dieser Menschen. Margreth, Svetlana, Mareike, Selahattin S. und Selahattin A., Elif, Haider und Angie, Meltem, Gülistan und Berivan, Maria, Kübra, Xezal und der kleine Junge schreiben ihre Geschichte in Briefen.

Die entstandenen 13 Portraits erzählen uns 13 Geschichten. Ohne Filter. Rein. Emotional. Und mit schonungsloser Offenheit.

Letters to the photographer

„Die wenigsten Lebenswege und Flüsse verlaufen geradlinig. Als Kinder erkundeten wir, was hinter der nächsten Abbiegung liegen mochte. Mit der Zeit erkennen wir zuweilen, dass wir uns, wie dieser Fluss, in ein starres, einschnürendes Korsett aus Erwartungen, Vorgaben und Fließrichtungen begeben haben. Wir dümpeln vor uns hin und haben kaum noch Raum zum Atmen. Befreien wir uns von Altlasten, erholen wir uns allmählich. Das kann in einem neuen Raum sein oder in dem alten Raum, der sich verändert hat.“–Mareike

„Nicht nur ein neues Leben bekam ich, sondern auch einen neuen Raum, einen neuen fruchtbaren Boden, der mir eine großzügige Ernte einbrachte. Mein eigenes neues Leben hier schafft bald noch ein zusätzliches neues Leben. Erst war ich allein, dann mit meinem Seelenverwandten, und nun werden wir bald zu dritt sein.“–Elif

(…)

Text: Nadine Ethner, 2022

© Fatih Kurçeren, Junge, Duisburg, März, 2017